Der Hochzeitsgast

Im Original: The Rime of the Ancient Mariner (1834 version) – Teil I – von Samuel Taylor Coleridge

– aus dem Englischen neuübersetzt von Stefan Zimmermann – Licensed under CC BY-NC 4.0

Ein alter Seemann tritt hervor,
Stoppt Einen von drei Mann.
“Welch rauschend’ Bart! Welch strahlend’ Blick!
Wieso hältst Du mich an?

“Der Bräutigam lud zum Empfang,
Ich bin von gleichem Blut;
Ein jeder Gast ein Herz sich fasst:
Hört nur die Stimmenflut.”

Mit dürrer Hand hält er ihn fest
Und spricht: “Es gab ein Schiff.”
“Nimm weg die Hand, Du alter Narr!”
Schon löst er seinen Griff.

Drauf hält er ihn mit seinem Blick –
Der Hochzeitsgast wird still
Und lauscht wie ein dreijähriges Kind:
So wie der Greis es will.

Der Hochzeitsgast hat sich gesetzt:
Denn mehr fiel ihm nicht ein;
So spricht er fort, der alte Mann,
In strahlend’ Augen Schein: –

“Der Hafen weit, voll Heiterkeit,
Wir liefen fröhlich aus,
Vorbei am Kirchturm und am Berg,
Vorbei am Leuchtturmhaus.

“Zur Linken ging die Sonne auf,
Stieg aus dem Meer empor!
Schien hell voran, zur Rechten dann
Sich wieder im Meer verlor.

“Höher und höher, jeden Tag,
Bis über den Mast hinauf” –
Der Hochzeitsgast ein Herz sich fasst,
Denn ein Fagott spielt auf.

Die Braut kommt in den Saal herein,
Ganz rot und rosenhaft;
Und vor ihr schreitet munter her
Die fröhliche Gauklerschaft.

Der Hochzeitsgast ein Herz sich fasst,
Doch mehr fällt ihm nicht ein;
So spricht er fort, der alte Mann,
In strahlend’ Augen Schein: –

“Dann kam der Seesturm über uns:
Erbarmungslos und hart
Schlug er mit seinen Schwingen zu;
Nach Süden ging die Fahrt.

“Den Bug gesenkt, die Masten schief,
Das Schiff wie ein Verfolgter tief
Im Schatten des Verfolgers lief,
Den Kopf hervorgeragt.
Die Fahrt war schnell, der Donner grell;
Aye, wurden wir gejagt!

“Nach Dunst kam Schnee, dann ward das Schiff
Von klirrend’ Frost gepackt;
Ein Eisbergwald umgab uns bald,
So grün wie ein Smaragd.

“Und durch das Spiel der Brocken fiel
Auf uns ein düsterer Schein:
Nicht Mensch noch Tier, nichts lebte hier –
Das Eis war ganz allein.

“Das Eis war hier, das Eis war dort,
Das Eis war überall:
Es grollte und brach, es heulte und stach;
Betäubender Krawall!

“Die Luft durchschoss ein Albatross:
Aus Dunst er sich erhob;
Als wäre er ein Christenkind,
So priesen wir ihn lob.

“Er teilte Speis’ und Trank mit uns,
Flog stetig um uns her.
Das Eis zersprang mit Donnerklang;
Die Durchfahrt wahr nicht schwer!

“Ein Südwind kam von achtern auf;
Das Tier uns nicht verlor.
Er täglich drang, zu Speis’ und Gesang,
In die Kajüten vor!

“Bei Wetter und Wind, ins Wantengebind’
Zog er neun Abende ein;
Und durch die Nacht, durch Nebeltracht,
Schien strahlend’ Mondenschein.”

“Gott schütze Dich, Du Mann der See,
Vor Allem, was Dir droht!
Was zehrt an Dir?” – “Das arme Tier;
Ich schoss den Vogel tot.

Schlafes Schinder

Im Original: “Insomnia” – von Winifred Virginia Jordan – aus: The Conservative, Vol. II, No. III (1916)

– aus dem Englischen neuübersetzt von Stefan Zimmermann – Licensed under CC BY-NC 4.0

Ich bin, was in die Nacht einbricht,
Des Schlafes Flügel schert;
Ich bin, was tief durchs Tageslicht
Mit Hexenstichen fährt;
Ich bin, was mit Tranchierbesteck
Das müde Hirn traktiert
Und knurrt, wenn sich Vergnügen reckt
In meinem Schmerzrevier.

Ich lache gern: Haha! Hoho!
Wenn Stille liegt im Haus;
Ich zeche gern: Haha! Hoho!
Wenn Schäfchen schwärmen aus!
Mein Sklavenheer zählt hundertfach,
Bis Schatten Augen sticht!
Der Schäfchen Sprung zehntausendfach:
Auf dass die Zählung bricht!

Ihr Loblied ist ein Trauerzug,
Geschmückt mit Blumenkranz;
Sie tragen weißen Überzug,
Umringt von Schaulusttanz.
Sie wandeln über Angst und Glut,
Beengt in Schlafquartier’n;
Ihr Geist verflucht mit Schamesflut:
Gebet kann nur verlier’n.

Und dann greif ich zur List erneut,
Die mich mit Gold befleckt;
Ich werfe Hungersduft wie Streu
Auf blütenweiß’ Gedeck!
Erinnerung, die mir entsagt,
Die treib’ ich vor mir her,
Bis ihre Sphäre überragt
Ihr hassgetränktes Wehr.

Ein jeder Sklave lacht, „Haha!“
Und zählt die Schäfchen durch
Und klagt der Zahlen im Traktat
Durch Nacht, durch Tag, durch Furcht;
Es fleht um Ruh’ ein zitternd’ Mund,
Das Herz am Kreuze weht,
Bis wer sich traut, all’ Qual tut kund
Und Sterben wild erfleht!

ICH BIN, WAS IN DIE NACHT EINBRICHT,
DES SCHLAFES FLÜGEL SCHERT;
ICH BIN, WAS TIEF DURCHS TAGESLICHT
MIT HEXENSTICHEN FÄHRT;
ICH BIN, WAS MIT TRANCHIERBESTECK
DAS MÜDE HIRN TRAKTIERT
UND KNURRT, WENN SICH VERGNÜGEN RECKT
IN MEINEM SCHMERZREVIER.

Also sprach der Polarstern

Ein Auszug aus: Polaris (1918) – von H. P. Lovecraft

– aus dem Englischen neuübersetzt von Stefan Zimmermann – Licensed under CC BY-NC 4.0

Schlumm’re, Wächter, bis die Sphären
Sechsundzwanzigtausendmal sich jähren
Und ich mich zurückbemühe
Zu dem Punkt, an dem ich jetzt noch glühe.
And’re Sterne werden steigen,
Vor der Himmelsachse sich verneigen;
Sterne voller Trost und Segen
Dir ein süß’ Vergessen auferlegen:
Erst wenn meine Bahn vollendet,
Die Vergangenheit sich Dir zuwendet.


Mit Polaris begann H. P. Lovecraft seine literarischen Reisen in die Traumlande –

Die Traumlande sind eine der tragenden Säulen von Lovecrafts Mythos, der neben Großen Alten, Sternengezücht und Tiefen Wesen mit jedem nur erdenklichem, kosmischem Horror aufwartet – im Diesseits als auch jenseits von Raum und Zeit – und dabei auf erstaunlichem Sprachniveau die Unbegreiflichkeit der wahren Mächte dieses phantastischen Weltenraumes in wiederum nicht gänzlich begreiflichen, dafür umso fesselnderen Worten zum berauschenden Ausdruck bringt … Getragen von einem Wortreichtum, der bis heute Seinesgleichen sucht –


Der Titanenanteil kosmischer Mythos-Erkenntnis liegt gepaart mit endlosem Entsetzen hinter dem Schleier des scheinbaren Seins –

Wer innerhalb von Lovecrafts Geschichten einmal auch nur kurzzeitig hinter den Schleier blickt, tritt unausweichlich eine phantastische Reise des Schreckens, aber auch der unheimlichen Begierde und Begeisterung an; von der sich in der Regel nichts berichten lassen wird, denn ihre Endstation ist meist entweder Wahnsinn oder Tod oder Selbstmord infolge seelischer Überforderung … So ergeht es vielen menschlichen Protagonisten in Lovecrafts Mythos-Werk: Der Weg des Unaussprechlichen ist das Ziel! Da geht es dem Wächter im Wachtturm von Thapnen nahe Olathoë – der nicht mehr weiß, welche Welt und aus welcher Welt heraus er träumt – vorerst noch verhältnismäßig gut … Denn seine fortgeschrittene Reise wird für die nächsten 26’000 Jahre unter dem zynischen Schutz des Polarsterns und der Vertretersterne, die während seines astronomischen Zyklus seinen Platz einnehmen, zumindest erst einmal ausgesetzt –


Schlüsselszenen sind in Lovecrafts Geschichten nicht selten gereimt –

Lovecrafts Verse sind meist in jambischem Versmaß gehalten; dem Klassiker englischer Dichtung schlechthin seit der frühen Neuzeit … Die traumhafte (Ein-)Rede des Polarsterns ist zur Abwechslung ein regelmäßiger, vierfüßiger Trochäus; dessen Katalexe  – also verkürzter vierter Fuß – mir ermöglichte, die Metrik für die Übersetzung nur geringfügig zu verlängern: Nur jeder zweiten Zeile eines gereimten Zeilenpaares brauchte ich einen zusätzlichen Fuß zu verleihen, um die begrifflich sehr nah am Original liegenden, deutschen Worte mit ihrer gegenüber dem Englischen höheren Silbenzahl dem nun akatalektischen Trochäus einzuschmiegen –


Im Jahre 1918, mit 28 Jahren, war Lovecrafts Jugendwelt endgültig entzaubert –

Seine enorme Unzufriedenheit mit sich selbst, mit der Gesellschaft und dem Weltgeschehen wandelte sich zur entscheidenden Triebkraft seiner weiteren Schriftstellerkarriere … Im Jahr zuvor erschuf Lovecraft mit Dagon seine erste, von der gleichnamigen Gottheit des Alten Orients abgeleitete, Mythos-Kreatur; und er hatte bereits drei Jahre zuvor mit der Herausgabe seiner eigenen Zeitschrift “The Conservative” begonnen, in der sich Literatur- und Gesellschaftskritik mit Satire und phantastischer Poesie von ihm und befreundeten Autorinnen und Autoren zu einem Meilenstein des Amateurjournalismus vereinten … In dem neben Lovecraft selbst vor allem seine Freundin Winifred V. Jackson als meiner Meinung nach noch phantastischere Dichterin glänzte; und dessen Struktur kaum von der eines heutigen Blogs zu unterscheiden ist –


Trotz aller Begeisterung für Lovecraft störe ich mich jedoch an diesen gewissen Stellen –

Ja … Diese Stellen in Lovecrafts Schriften, an denen jenes, in vielen Gesellschaften seiner Zeit so weit verbreitetes, rassistisch-xenophobische Gedankengut wie nimmerversteinernder Kaugummi klebt … Ich finde es wichtig, dies immer wieder zu erwähnen und im Hinterkopf zu behalten, wenn man sich mit Lovecraft befasst; und mindestens genauso wichtig ist mir, keinen Liebhaber von Lovecrafts Werken deswegen vor eine Gretchenfrage zu stellen –


Trotz dieser störenden Stellen in Lovecrafts Schaffen überwiegt in mir eindeutig die Begeisterung für sein phantastisches Gesamtwerk –

Weder vermögen meiner Meinung nach seine fragwürdigen Fragmente heutzutage Irgendjemanden zum Schlechten bekehren, noch ist mir irgendein Fall bekannt, in dem sich eine fremdenfeindliche Bewegung der heutigen Zeit in ihrem kruden Gedankengut auf Lovecraft oder gar seinen Mythos beruft … Bekannt ist mir nur, dass Lovecrafts literarische Welten die wohl größte Inspiration für phantastischen Horror in Gegenwartsliteratur, -film und -fernsehen, bildenden Künsten und Brett-, Computer- und Rollenspielen war, ist und bleibt; und dass ich vor allem über Franz Kafka, H. P. Lovecraft und Hunter S. Thompson letztendlich zu meiner eigenen literarischen Stimme fand …

– ß


Cthulhu emp/be- 😉 fiehlt zur eigenen Meinungsbildung über H. P. Lovecraft: