Neptunwacht

Ein FHTAGN-Gedicht

– von Stefan Zimmermann – Licensed under CC BY-NC 4.0

Zorn entbrennt im blauen Himmelsmeer:
Tag bricht an!
Unerbittlich wächst das Zahlenheer:
Nächtelang!

Ferner Stern schenkt Dir ein Fünkchen Glut:
Nimmst es an!
Gierst danach und stürmst doch wild vor Wut:
Lebenslang!

Flog hinaus in Deinen schroffen Schoß:
Hielt nie an!
Schmähte stets des Erdenlebens Los:
Forscherdrang!

Sah Dich wachsen, Tag um Stund’ und Jahr:
Sieh Dich an!
Gleichsam stolz und zart bist Du mir nah:
Minnesang!

Flieg doch auch hinaus und eile fort:
Bahn um Bahn!
Folge Dir in ferner Welten Hort:
Übergang …

Also sprach der Polarstern

Ein Auszug aus: Polaris (1918) – von H. P. Lovecraft

– aus dem Englischen neuübersetzt von Stefan Zimmermann – Licensed under CC BY-NC 4.0

Schlumm’re, Wächter, bis die Sphären
Sechsundzwanzigtausendmal sich jähren
Und ich mich zurückbemühe
Zu dem Punkt, an dem ich jetzt noch glühe.
And’re Sterne werden steigen,
Vor der Himmelsachse sich verneigen;
Sterne voller Trost und Segen
Dir ein süß’ Vergessen auferlegen:
Erst wenn meine Bahn vollendet,
Die Vergangenheit sich Dir zuwendet.


Mit Polaris begann H. P. Lovecraft seine literarischen Reisen in die Traumlande –

Die Traumlande sind eine der tragenden Säulen von Lovecrafts Mythos, der neben Großen Alten, Sternengezücht und Tiefen Wesen mit jedem nur erdenklichem, kosmischem Horror aufwartet – im Diesseits als auch jenseits von Raum und Zeit – und dabei auf erstaunlichem Sprachniveau die Unbegreiflichkeit der wahren Mächte dieses phantastischen Weltenraumes in wiederum nicht gänzlich begreiflichen, dafür umso fesselnderen Worten zum berauschenden Ausdruck bringt … Getragen von einem Wortreichtum, der bis heute Seinesgleichen sucht –


Der Titanenanteil kosmischer Mythos-Erkenntnis liegt gepaart mit endlosem Entsetzen hinter dem Schleier des scheinbaren Seins –

Wer innerhalb von Lovecrafts Geschichten einmal auch nur kurzzeitig hinter den Schleier blickt, tritt unausweichlich eine phantastische Reise des Schreckens, aber auch der unheimlichen Begierde und Begeisterung an; von der sich in der Regel nichts berichten lassen wird, denn ihre Endstation ist meist entweder Wahnsinn oder Tod oder Selbstmord infolge seelischer Überforderung … So ergeht es vielen menschlichen Protagonisten in Lovecrafts Mythos-Werk: Der Weg des Unaussprechlichen ist das Ziel! Da geht es dem Wächter im Wachtturm von Thapnen nahe Olathoë – der nicht mehr weiß, welche Welt und aus welcher Welt heraus er träumt – vorerst noch verhältnismäßig gut … Denn seine fortgeschrittene Reise wird für die nächsten 26’000 Jahre unter dem zynischen Schutz des Polarsterns und der Vertretersterne, die während seines astronomischen Zyklus seinen Platz einnehmen, zumindest erst einmal ausgesetzt –


Schlüsselszenen sind in Lovecrafts Geschichten nicht selten gereimt –

Lovecrafts Verse sind meist in jambischem Versmaß gehalten; dem Klassiker englischer Dichtung schlechthin seit der frühen Neuzeit … Die traumhafte (Ein-)Rede des Polarsterns ist zur Abwechslung ein regelmäßiger, vierfüßiger Trochäus; dessen Katalexe  – also verkürzter vierter Fuß – mir ermöglichte, die Metrik für die Übersetzung nur geringfügig zu verlängern: Nur jeder zweiten Zeile eines gereimten Zeilenpaares brauchte ich einen zusätzlichen Fuß zu verleihen, um die begrifflich sehr nah am Original liegenden, deutschen Worte mit ihrer gegenüber dem Englischen höheren Silbenzahl dem nun akatalektischen Trochäus einzuschmiegen –


Im Jahre 1918, mit 28 Jahren, war Lovecrafts Jugendwelt endgültig entzaubert –

Seine enorme Unzufriedenheit mit sich selbst, mit der Gesellschaft und dem Weltgeschehen wandelte sich zur entscheidenden Triebkraft seiner weiteren Schriftstellerkarriere … Im Jahr zuvor erschuf Lovecraft mit Dagon seine erste, von der gleichnamigen Gottheit des Alten Orients abgeleitete, Mythos-Kreatur; und er hatte bereits drei Jahre zuvor mit der Herausgabe seiner eigenen Zeitschrift “The Conservative” begonnen, in der sich Literatur- und Gesellschaftskritik mit Satire und phantastischer Poesie von ihm und befreundeten Autorinnen und Autoren zu einem Meilenstein des Amateurjournalismus vereinten … In dem neben Lovecraft selbst vor allem seine Freundin Winifred V. Jackson als meiner Meinung nach noch phantastischere Dichterin glänzte; und dessen Struktur kaum von der eines heutigen Blogs zu unterscheiden ist –


Trotz aller Begeisterung für Lovecraft störe ich mich jedoch an diesen gewissen Stellen –

Ja … Diese Stellen in Lovecrafts Schriften, an denen jenes, in vielen Gesellschaften seiner Zeit so weit verbreitetes, rassistisch-xenophobische Gedankengut wie nimmerversteinernder Kaugummi klebt … Ich finde es wichtig, dies immer wieder zu erwähnen und im Hinterkopf zu behalten, wenn man sich mit Lovecraft befasst; und mindestens genauso wichtig ist mir, keinen Liebhaber von Lovecrafts Werken deswegen vor eine Gretchenfrage zu stellen –


Trotz dieser störenden Stellen in Lovecrafts Schaffen überwiegt in mir eindeutig die Begeisterung für sein phantastisches Gesamtwerk –

Weder vermögen meiner Meinung nach seine fragwürdigen Fragmente heutzutage Irgendjemanden zum Schlechten bekehren, noch ist mir irgendein Fall bekannt, in dem sich eine fremdenfeindliche Bewegung der heutigen Zeit in ihrem kruden Gedankengut auf Lovecraft oder gar seinen Mythos beruft … Bekannt ist mir nur, dass Lovecrafts literarische Welten die wohl größte Inspiration für phantastischen Horror in Gegenwartsliteratur, -film und -fernsehen, bildenden Künsten und Brett-, Computer- und Rollenspielen war, ist und bleibt; und dass ich vor allem über Franz Kafka, H. P. Lovecraft und Hunter S. Thompson letztendlich zu meiner eigenen literarischen Stimme fand …

– ß


Cthulhu emp/be- 😉 fiehlt zur eigenen Meinungsbildung über H. P. Lovecraft: