Der Sterne Überschwang

Im Original: The Star-Treader (1912) – Teil I – von Clark Ashton Smith

– aus dem Englischen neuübersetzt von Stefan Zimmermann – Licensed under CC BY-NC 4.0

Eine Stimme schrie zum Anbeginn der Träume,
Sprach: „Beeil’ Dich: das Geweb’ aus Tod und Leben
Ist hinfortgefegt, und jede Erdenstrebe
Bricht entzwei; es schimmern in die Räume
Deine altbewährten Sternenpfade,
Deren Flammen in Dir glühen;
Tiefe, unveränderliche Gründe ziehen
Voll der Dunkelschwaden
Sich durch alle Deine Phantasien.
Schreite unversehrt voran ins Glänzen
Jener Sterne, die Du lange Zeit schon kennst; und
Dringe furchtlos in die Weiten,
Die Dich nie verschlangen in vergang’nen Zeiten.
Eine Hand wird deren Ketten sprengen,
Dir die Pforten durch die Jahre weisen;
Bindungen aus Erdenglück und Tränen reißen,
Und Dein Traum eröffnet sich den Überschwängen“

Woher kein Reisender mehr wiederkehrt

Der Daseinsmonolog des Hamlet – First Folio (1623) – von William Shakespeare

 – aus dem Englischen neuübersetzt von Stefan Zimmermann – Licensed under CC BY-NC 4.0

Dasein oder Nichtmehrsein, das ist die Frage;
Was wohl edler’n Eindruck macht: Der Habgier Schlinge
Und des unverschämten Reichtums Pfeil erleiden
Oder mit den Waffen in ein Meer aus Qualen,
Um sie auszumerzen, schreiten: Sterben, Schlafen
Und sonst nichts; und schließlich mit dem Schlaf besiegen:
Herzensschmerz und tausendfach’ Erschütterungen,
Derer sich ein Leibe qlt? Vollendung ist es,
Nach der Jeder sehnlich strebt. Nach Sterben, Schlafen;
Schlaf ist die Gelegenheit zum Traum: Das ist es;
Was in diesem Todesschlaf an Träumen käme,
Wenn die Wirrungen der Sterblichkeit wir lösten,
Muss uns Einhalt geben. Liegt nicht darin jener
Grund des Unglücks eines hohen Lebensalters:
Denn wer nähme hin des Lebens Spott und Peitschen,
Unterdrückung und der armen Menschen Schmähung,
Schmerz verfehlter Liebe und des Rechts Verschleppung,
Unverfrorenheit der Ämter und Verachtung
Jener nur mit schlichtem Fleiß erbrachter Taten,
Wenn sich Todesstöße einfach setzen ließen
Mit der schlichten Nadel? Warum Bündel tragen,
Keuchend, schwitzend und des Lebens überdrüssig;
Eigentlich doch nur aus Furcht vor Jenseitsfragen,
Dass das ferne, unentdeckte Land, woher kein
Reisender mehr wiederkehrt, den Geist uns martert
Und uns lieber lässt bekannte Qual erleiden
Statt hinein in ungewisse Sphären schreiten.
Dies’ Gewissen mehrt die Feigheit in uns allen,
Lässt die reich gefärbte Urgewalt der Tatkraft
Siechen in der Bleiche des Gedankentreibens,
Unternehmungen mit größtem Schwung im Marke
Dementsprechend aus der Schaffensbahn geraten
Und verlieren jeden Drang. Erbarm’ Dich meiner,
Liebliche Ophelia? – Nymphe, Dein Gebet soll
Jeder meiner Sünden mahnen.

Neptunwacht

Ein FHTAGN-Gedicht

– von Stefan Zimmermann – Licensed under CC BY-NC 4.0

Zorn entbrennt im blauen Himmelsmeer:
Tag bricht an!
Unerbittlich wächst das Zahlenheer:
Nächtelang!

Ferner Stern schenkt Dir ein Fünkchen Glut:
Nimmst es an!
Gierst danach und stürmst doch wild vor Wut:
Lebenslang!

Flog hinaus in Deinen schroffen Schoß:
Hielt nie an!
Schmähte stets des Erdenlebens Los:
Forscherdrang!

Sah Dich wachsen, Tag um Stund’ und Jahr:
Sieh Dich an!
Gleichsam stolz und zart bist Du mir nah:
Minnesang!

Flieg doch auch hinaus und eile fort:
Bahn um Bahn!
Folge Dir in ferner Welten Hort:
Übergang …

In verwürmten Tiefen

Im Original: The Kraken – aus: Poems, Chiefly Lyrical (1830) – von Alfred, Lord Tennyson

– aus dem Englischen neuübersetzt von Stefan Zimmermann – Licensed under CC BY-NC 4.0

Unter Groll und Donner tiefer Flutentracht;
Weit darunter! In dem abgrundtiefen Meere,
Traumlos, unberührt, in ewig während Nacht
Schläft der Kraken: Um ihn völlig lichterleere,
Finstre Schattenwelt; darüber üppig schwillt
Ein Morast, seit tausend Jahren aufgehäuft;
Weit hinaus! In jämmerliches Licht verläuft,
Wundersamen Höhlen insgeheim entquillt
Wirres Werk aus ungeheuren Wucherungen,
Die mit Riesenarmen grüne Schwaden stricken.
Seit Äonen liegt er da, und seine Zungen
Laben sich an Seegewürm – Indes er ruht,
Bis die Tiefen brodeln in der letzten Glut;
Und dann wird er unter Mensch und Engels Blicken
Dröhnend sich erheben und vom letzten Tag verschlungen.

Also sprach der Polarstern

Ein Auszug aus: Polaris (1918) – von H. P. Lovecraft

– aus dem Englischen neuübersetzt von Stefan Zimmermann – Licensed under CC BY-NC 4.0

Schlumm’re, Wächter, bis die Sphären
Sechsundzwanzigtausendmal sich jähren
Und ich mich zurückbemühe
Zu dem Punkt, an dem ich jetzt noch glühe.
And’re Sterne werden steigen,
Vor der Himmelsachse sich verneigen;
Sterne voller Trost und Segen
Dir ein süß’ Vergessen auferlegen:
Erst wenn meine Bahn vollendet,
Die Vergangenheit sich Dir zuwendet.


Mit Polaris begann H. P. Lovecraft seine literarischen Reisen in die Traumlande –

Die Traumlande sind eine der tragenden Säulen von Lovecrafts Mythos, der neben Großen Alten, Sternengezücht und Tiefen Wesen mit jedem nur erdenklichem, kosmischem Horror aufwartet – im Diesseits als auch jenseits von Raum und Zeit – und dabei auf erstaunlichem Sprachniveau die Unbegreiflichkeit der wahren Mächte dieses phantastischen Weltenraumes in wiederum nicht gänzlich begreiflichen, dafür umso fesselnderen Worten zum berauschenden Ausdruck bringt … Getragen von einem Wortreichtum, der bis heute Seinesgleichen sucht –


Der Titanenanteil kosmischer Mythos-Erkenntnis liegt gepaart mit endlosem Entsetzen hinter dem Schleier des scheinbaren Seins –

Wer innerhalb von Lovecrafts Geschichten einmal auch nur kurzzeitig hinter den Schleier blickt, tritt unausweichlich eine phantastische Reise des Schreckens, aber auch der unheimlichen Begierde und Begeisterung an; von der sich in der Regel nichts berichten lassen wird, denn ihre Endstation ist meist entweder Wahnsinn oder Tod oder Selbstmord infolge seelischer Überforderung … So ergeht es vielen menschlichen Protagonisten in Lovecrafts Mythos-Werk: Der Weg des Unaussprechlichen ist das Ziel! Da geht es dem Wächter im Wachtturm von Thapnen nahe Olathoë – der nicht mehr weiß, welche Welt und aus welcher Welt heraus er träumt – vorerst noch verhältnismäßig gut … Denn seine fortgeschrittene Reise wird für die nächsten 26’000 Jahre unter dem zynischen Schutz des Polarsterns und der Vertretersterne, die während seines astronomischen Zyklus seinen Platz einnehmen, zumindest erst einmal ausgesetzt –


Schlüsselszenen sind in Lovecrafts Geschichten nicht selten gereimt –

Lovecrafts Verse sind meist in jambischem Versmaß gehalten; dem Klassiker englischer Dichtung schlechthin seit der frühen Neuzeit … Die traumhafte (Ein-)Rede des Polarsterns ist zur Abwechslung ein regelmäßiger, vierfüßiger Trochäus; dessen Katalexe  – also verkürzter vierter Fuß – mir ermöglichte, die Metrik für die Übersetzung nur geringfügig zu verlängern: Nur jeder zweiten Zeile eines gereimten Zeilenpaares brauchte ich einen zusätzlichen Fuß zu verleihen, um die begrifflich sehr nah am Original liegenden, deutschen Worte mit ihrer gegenüber dem Englischen höheren Silbenzahl dem nun akatalektischen Trochäus einzuschmiegen –


Im Jahre 1918, mit 28 Jahren, war Lovecrafts Jugendwelt endgültig entzaubert –

Seine enorme Unzufriedenheit mit sich selbst, mit der Gesellschaft und dem Weltgeschehen wandelte sich zur entscheidenden Triebkraft seiner weiteren Schriftstellerkarriere … Im Jahr zuvor erschuf Lovecraft mit Dagon seine erste, von der gleichnamigen Gottheit des Alten Orients abgeleitete, Mythos-Kreatur; und er hatte bereits drei Jahre zuvor mit der Herausgabe seiner eigenen Zeitschrift “The Conservative” begonnen, in der sich Literatur- und Gesellschaftskritik mit Satire und phantastischer Poesie von ihm und befreundeten Autorinnen und Autoren zu einem Meilenstein des Amateurjournalismus vereinten … In dem neben Lovecraft selbst vor allem seine Freundin Winifred V. Jackson als meiner Meinung nach noch phantastischere Dichterin glänzte; und dessen Struktur kaum von der eines heutigen Blogs zu unterscheiden ist –


Trotz aller Begeisterung für Lovecraft störe ich mich jedoch an diesen gewissen Stellen –

Ja … Diese Stellen in Lovecrafts Schriften, an denen jenes, in vielen Gesellschaften seiner Zeit so weit verbreitetes, rassistisch-xenophobische Gedankengut wie nimmerversteinernder Kaugummi klebt … Ich finde es wichtig, dies immer wieder zu erwähnen und im Hinterkopf zu behalten, wenn man sich mit Lovecraft befasst; und mindestens genauso wichtig ist mir, keinen Liebhaber von Lovecrafts Werken deswegen vor eine Gretchenfrage zu stellen –


Trotz dieser störenden Stellen in Lovecrafts Schaffen überwiegt in mir eindeutig die Begeisterung für sein phantastisches Gesamtwerk –

Weder vermögen meiner Meinung nach seine fragwürdigen Fragmente heutzutage Irgendjemanden zum Schlechten bekehren, noch ist mir irgendein Fall bekannt, in dem sich eine fremdenfeindliche Bewegung der heutigen Zeit in ihrem kruden Gedankengut auf Lovecraft oder gar seinen Mythos beruft … Bekannt ist mir nur, dass Lovecrafts literarische Welten die wohl größte Inspiration für phantastischen Horror in Gegenwartsliteratur, -film und -fernsehen, bildenden Künsten und Brett-, Computer- und Rollenspielen war, ist und bleibt; und dass ich vor allem über Franz Kafka, H. P. Lovecraft und Hunter S. Thompson letztendlich zu meiner eigenen literarischen Stimme fand …

– ß


Cthulhu emp/be- 😉 fiehlt zur eigenen Meinungsbildung über H. P. Lovecraft: